Jugend in der Krise – Möglichkeiten niederschwelliger online Peer-to-Peer Begleitung für Jugendliche am Beispiel der Plattform OPEN

Andrea Jesser, Susanne Schmalwieser, Anna-Lena Mädge, Beate Schrank, Markus Böckle

Die Lebensphase der Jugend bringt viele biografische Herausforderungen und biopsychosoziale Veränderungen mit sich (Ravens-Sieberer et al., 2021). Es findet eine Ablösung von den Eltern statt; selbstständige Entscheidungen und Eigenverantwortlichkeit gewinnen an Bedeutung. Die Anforderungen, die mit diesen Entwicklungsprozessen verbunden sind, können zu psychischen Belastungen und auch Erkrankungen führen (Cicognani, 2011).

Ein Blick auf die psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen zeigt, dass die Anzahl junger Menschen mit häufigen psychischen Beschwerden seit 2010 stark gestiegen ist (BMASK, 2018). 16,5% der Jugendlichen zwischen 10 und 18 Jahren gaben vor der COVID-19 Pandemie an, psychische Probleme zu haben, darunter vor allem psychosomatische Beschwerden, Gedankenkreisen, sozialen Rückzug, ängstliche oder depressive Verstimmungen (Philipp et al., 2018). Psychische Erkrankungen wurden sogar bei 23,9% der Jugendlichen festgestellt, wobei Angststörungen und Störungen der psychischen und neuronalen Entwicklung mit 9,5% bzw. 6,5% am häufigsten vorkamen (Wagner et al., 2017).

Untersuchungen zu den Auswirkungen der Pandemie und der mit ihr einhergehenden Maßnahmen auf die psychische Gesundheit ergeben im Vergleich dazu nochmals besorgniserregende Verschlechterungen. Nunmehr zeigen sich bei 55% der jungen Menschen zwischen 14 und 20 Jahren depressive Symptome, bei 47% Angstsymptome, bei 64% Symptome einer Essstörung und bei 23% Symptome einer Schlafstörung. Auch suizidale Gedanken sind häufig und werden von 16% der Jugendlichen angegeben (Pieh et al., 2021).

Zum besseren Verständnis dieser Ergebnisse ist wichtig zu bedenken, dass durch Lockdowns, Ausgangsbeschränklungen und wiederholte Schulschließungen für Jugendliche soziale Kontakte zu Mitschüler_innen, Kolleg_innen und Freund_innen abbrachen. Gerade für junge Menschen sind Interaktionen mit Gleichaltrigen essentiell, um sich gut von den Eltern abzulösen, den Schritt in die Eigenständigkeit zu wagen und ein Gefühl sozialer Selbstidentität zu entwickeln (Orben et al., 2020). Darüber hinaus schützen soziale Kontakte vor psychischen Problemen bzw. helfen den Jugendlichen dabei, diese besser zu bewältigen (Bois-Reymond, 1995; Cicognani, 2011; Inchley et al., 2016; Kamper, 2015). Aber auch die Tagesstrukturen der Jugendlichen veränderten sich durch Homeschooling, Homeoffice und Kurzarbeit innerhalb kurzer Zeit grundlegend und vertraute Routinen wurden plötzlich außer Kraft gesetzt. Belastend hinzu kamen außerdem Unsicherheiten und Ängste in Bezug auf die eigene Gesundheit oder die von Angehörigen und Freund_innen sowie in Bezug auf die eigene berufliche Zukunft und die langfristigen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen der Pandemie (Mazumder et al., 2021).

Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, bestehende Angebote zur Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen deutlich auszuweiten und insbesondere Möglichkeiten niederschwelliger Unterstützung zu schaffen, mit denen junge Menschen erreicht werden können, die aufgrund von fehlender Information, Ressourcenknappheit oder Stigma keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Einen besonders niederschwelligen Zugang zu psychosozialer Hilfe bieten digitale Beratungsformate und hier besonders halbformalisierte Hilfsangebote durch semiprofessionelle oder geschulte Laienhelfer_innen in moderierten Chats, sowie informelle (Selbst-)Hilfe durch Peers und Gleichbetroffene in öffentlichen oder teilweise öffentlichen Online-Foren oder Gruppen (Kupfer und Mayer, 2019). Als „digital natives“ sind Jugendliche mit Online-Kommunikation vertraut. Die meisten von ihnen haben ein eigenes Smartphone (93%) oder einen eigenen Laptop bzw. Computer (60%) (Feierabend et al., 2020) und verbringen täglich Zeit im Netz (97%) (Schipfer, 2020), unter anderem um mit Freund_innen zu kommunizieren (Weinstein und Selman, 2016). Dennoch finden sich in der Versorgungslandschaft in Österreich wenige der oben genannten Angebote, die auf dieses Nutzungsverhalten eingehen.

Einen entsprechenden Bedarf hat ein Projektteam an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften erkannt und im Rahmen eines partizipativen Forschungsprojektes mit Jugendlichen, Eltern und Fachkräften, die mit Familien, Kindern und Jugendlichen arbeiten, das Konzept für eine Online-Plattform entwickelt, über die Jugendliche „Peers“ zwischen 14 und 21 Jahren mit jugendlichen „Peer-Begleiter_innen“ zwischen 16 und 21 Jahren Kontakt aufnehmen und sich zeitlich und räumlich unabhängig, anonym und kostenlos über ihre Probleme austauschen können. Die Plattform OPEN – Open Peer Encouragement Network – will Jugendliche mit diesem Angebot dort abholen, wo sie sich im Alltag bewegen: in digitalen Räumen und unter anderen Jugendlichen.

Die Peer-Begleiter_innen erhalten eine viertägige Schulung, in der mögliche Themen und Herausforderungen der Begleitung sowie Lösungsstrategien und schriftbasierte Möglichkeiten der Unterstützung behandelt werden. Außerdem werden Peer-Begleiter_innen durch ausgebildete Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut_innen supervidiert.

Die jugendlichen Peers können über die Plattform eine erste Anfrage abschicken und werden daraufhin mit einem passenden Peer-Begleiter oder einer passenden Peer-Begleiterin (nach angegebenen Themenschwerpunkten) gematcht. Über den Zeitraum der Begleitung bleibt der/die Peer-Begleiter_in gleich, sodass eine Vertrauensbeziehung zwischen den Jugendlichen aufgebaut werden kann.

Um Nutzungstrends bei Jugendlichen entgegenzukommen, entspricht das Design der Plattform von der Optik her einer Chat- bzw. Messenger-Applikation. Die Kommunikationsstruktur ist jedoch analog zu einer E-Mail-Begleitung aufgebaut, d.h. Peer-Begleiter_innen haben – im Gegensatz zur synchronen Kommunikation in einem Chat – länger (72 Stunden) Zeit, um auf Anfragen und Textnachrichten zu antworten. Das räumt ihnen die Möglichkeit ein, über eine Antwort nachzudenken und gegebenenfalls zusätzliches Feedback im Rahmen einer Supervision einzuholen und beugt damit einer Überforderung seitens der Peer-Begleiter_innen vor.

Die Programmierung der Plattform wird zurzeit fertiggestellt und eine erste Schulung der Peer-Begleiter_innen ist für Herbst 2021 geplant. Damit kann OPEN Ende dieses Jahres online gehen.  Durch die Bewerbung der Plattform über verschiedene Rekrutierungswege (Schulen, Jugendzentren, Social-Media, etc.) soll jungen Menschen aus unterschiedlichen Zielgruppen ermöglicht werden, OPEN als Unterstützungsangebot zu nutzen, um mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten und Hilfe anzunehmen. Die niederschwellige Peer-to-Peer Begleitung kann eine Erstentlastung bewirken oder als Erstkontakt zu professionellen Beratungs- oder Therapiesettings überleiten (Elstad, 2014).

Referenzen

  • BMASK. (2018). Die psychische Gesundheit österreichischer Schülerinnen und Schüler. https://www.sozialministerium.at/dam/jcr:aef19b93-d040-42f4-8df5-3435e2fbd22d/HBSC%202018%20FS%2001%20-%20Psychische%20Gesundheit.pdf
  • Bois-Reymond, M. du. (1995). Childhood and youth in Germany and the Netherlands: Transitions and coping strategies of adolescents. Walter de Gruyter.
  • Cicognani, E. (2011). Coping Strategies With Minor Stressors in Adolescence: Relationships With Social Support, Self-Efficacy, and Psychological Well-Being. Journal of Applied Social Psychology, 41(3), 559–578. https://doi.org/10.1111/j.1559-1816.2011.00726.x
  • Feierabend, S., Rathgeb, T., & Reutter, T. (2020). JIM-Studie 2019. Jugend—Information—Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12-19-Jähriger. Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest.
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  • Kamper, A. (2015). Psychische und psychosomatische Probleme im Jugendalter: Grundlagen, Grundsätze und erste Schritte des Beziehungsaufbaus. Monatsschrift Kinderheilkunde, 163(9), 900–910. https://doi.org/10.1007/s00112-015-3332-9
  • Kupfer, A., & Mayer, M. (2019). Digitalisierung der Beratung. Onlineberatung für Kinder und Jugendliche und die Frage nach Möglichkeiten des Blended Counseling in der Kinder- und JugendhilfeDigitization of counseling. Online counseling for children and youth and the question of possibilities of blended counseling in youth welfare services. Soziale Passagen, 11, 243–265. https://doi.org/10.1007/s12592-019-00333-1
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  • Ravens-Sieberer, U., Kaman, A., Erhart, M., Devine, J., Schlack, R., & Otto, C. (2021). Impact of the COVID-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany. European Child & Adolescent Psychiatry. https://doi.org/10.1007/s00787-021-01726-5
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  • Wagner, G., Zeiler, M., Waldherr, K., Philipp, J., Truttmann, S., Dür, W., Treasure, J. L., & Karwautz, A. F. K. (2017). Mental health problems in Austrian adolescents: A nationwide, two-stage epidemiological study applying DSM-5 criteria. European Child & Adolescent Psychiatry, 26(12), 1483–1499. https://doi.org/10.1007/s00787-017-0999-6
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