Schutz von minderjährigen Kindern bei miterlebter Gewalt aus der Erfahrung der täglichen Arbeit des Gewaltschutzzentrums

Das Gewaltschutzzentrum Niederösterreich ist eine anerkannte Opferschutzeinrichtung und wurde 1999 als Interventionsstelle zur Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt nach Inkrafttreten des ersten Gewaltschutzgesetzes 1997 eröffnet. 

Beauftragt und finanziert wird der Verein Gewaltschutzzentrum NÖ für Gewaltprävention, Opferhilfe und Opferschutz vom Bundeskanzleramt – Sektion für Frauenangelegenheiten und Gleichstellung – und dem Bundesministerium für Inneres. Psychosoziale und juristische Prozessbegleitung wird vom Bundesministerium für Justiz gefördert.

Ziel der Unterstützungsarbeit ist, die Sicherheit der Betroffenen zu erhöhen und sie zu ermächtigen, Lebensqualität und ein selbstbestimmtes Leben wiederzuerlangen. Dies erfolgt durch pro-aktive Unterstützung und koordinierte Interventionen. Im Jahr 2019 sprach die Polizei in Niederösterreich 1.506 Betretungsverbote aus. Gesamt betreute das Gewaltschutzzentrum 2.822 Opfer von häuslicher Gewalt und Stalking. Über 81% der Gewaltopfer waren weiblich, knapp 90% der gefährdenden Personen waren männlich. Frauen sind überproportional häufig von Partner*innengewalt, bzw. Gewalt im sozialen Nahraum betroffen und häufig sind Frauen und ihre Kinder gemeinsam Opfervon Gewalt1

Die Erarbeitung von Schutz- und Sicherheitsmaßnahmen mit den betroffenen Klient*innen und der Schutz, der in den haushaltlebenden Kindern stehen im Mittelpunkt der Beratungstätigkeit. 

Rechtliche Bestimmungen und Auswirkungen von miterlebter Gewalt auf das Kindeswohl
Österreich hat mit dem Kindschaftsrechts- Änderungsgesetz 1989 das absolute Gewaltverbot in der Erziehung eingeführt und seit 1. Februar 2013 ist das Kindschafts- und Namensrechts-Änderungsgesetz in Kraft. Die Absicht des/der Gesetzgeber*in ist es minderjährige Kinder vor Gewalt an sich, aber auch vor dem Miterleben von Gewalt zu schützen, um eine Traumatisierung durch das Er- und Miterleben von körperlicher und seelischer Gewalt von minderjährigen Kindern zu verhindern.2 Miterlebte Gewalt ist ein Kriterium zur Beurteilung des Kindeswohls3 für das Gericht iSd. § 138 Z 7 ABGB: „die Vermeidung der Gefahr für das Kind, Übergriffe oder Gewalt selbst zu erleiden oder an wichtigen Bezugspersonen mitzuerleben“. 

Betroffene Kinder können auf das Miterleben von Gewalt gegen eine nahe Bezugsperson mit erheblichen Symptomen wie Schlaf- und Essstörungen, Einnässen, Schulproblemen, aggressiven bzw. depressiven Verhalten, ec. reagieren. Die Mitbetroffenheit von Kindern bei Gewalt in der Familie bedeutet auch, dass sie einem hohen Risiko ausgesetzt sind, selbst Gewalt zu erleiden bzw. besteht ein erhöhtes Risiko als Erwachsene/r selbst Gewalt zu erfahren oder auszuüben4.

In der „Istanbul Konvention“5 von 2011, dem "Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt" welche von Österreich 2013 ratifiziert wurde, wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass miterlebte Gewalt genauso wirken kann wie wenn Kinder selbst von Gewalt betroffen sind und dass bei Besuchs- und/oder Sorgerecht  in Hinblick auf das Kindeswohl darauf Rücksicht genommen werden muss. Festgehalten ist dies im Artikel 31 - Sorgerecht, Besuchsrecht und Sicherheit. Für Kinder, die Opfer oder Zeuginnen beziehungsweise Zeug*innen von Gewalt gegen Frauen und von häuslicher Gewalt geworden sind, werden gegebenenfalls besondere Schutzmaßnahmen zur Wahrung des Kindeswohles getroffen. Diese Bestimmungen finden sich im Artikel 26 - Schutz und Unterstützung für Zeug*innen, die Kinder sind wieder. Mit dieser Bestimmung soll dafür Sorge getragen werden, dass die Sicherheit der Opfer und ihrer Kinder nicht noch mehr beeinträchtigt wird und Behörden angehalten sind Maßnahmen anzuordnen, bzw. zu setzten, damit so eine weitere Traumatisierung verhindert wird. Es ist daher unumgänglich, den Opferstatus der Kinder, die Zeug*innen aller in den Anwendungsbereich des Übereinkommens fallenden Formen von Gewalt, sowie deren Anspruch auf Hilfe anzuerkennen und zu respektieren.
Ebenso sollte gemäß Artikel 56 Abs 2 der „Istanbul Konvention“ gegebenenfalls für Kinder, die Opfer oder Zeug*innen von Gewalt gegen Frauen und von häuslicher Gewalt wurden, besondere Schutzmaßnahmen unter Berücksichtigung des Wohles des Kindes getroffen werden.

Durch das „Gewaltschutzgesetz2019“ wurden einige Punkte betreffend Schutz des Kindeswohls durch die Gesetzgebung erfasst und somit der Umsetzung der „Istanbul Konvention“ Rechnung getragen. Hier erwähnt ist die Änderung des §38a SPG.

Mit der Novellierung des § 38a Abs. 4 Z. 16 ist im Einzelfall jene Person zu informieren, in deren Obhut sich das minderjährige Kind befindet, sowie in Abs. 4 Z. 2 SPG ist die Kinder- und Jugendhilfe in allen Fällen, in denen minderjährige Kinder in der vom Betretungs- und Annäherungsverbot (BV/AV) erfassten Wohnung leben, über den Ausspruch des BV/AV zu informieren.7 Die Befugnis der Kinder- und Jugendhilfe nach § 211 Abs. 2 ABGB einen Antrag gem. §§ 382b, e EO zu stellen, wurde um die Befugnis der Antragstellung gem. § 382g EO („Stalking-EV“) erweitert. Die Kinder- und Jugendhilfe kann ex lege einen Antrag auf eine einstweilige Verfügung nach den §§ 382b, e oder g EO stellen, wenn der/die sonstige gesetzliche Vertreter*in einen erforderlichen Antrag zur Wahrung des Wohles der/des Minderjährigen nicht unverzüglich gestellt hat.8

Resümee aus der Praxis
Unumstritten ist die Tatsache, dass auch das Miterleben von Gewalt als Bedrohung des Kindeswohls definiert ist. Trotzdem zeigt sich in der Praxis in der individuellen Betrachtung von einzelnen Fällen ein anderes Bild. Vor allem bei Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren spielt der Umstand der miterlebten Gewalt an einer nahen familiären Bezugsperson oft eine geringe Rolle. Vielmehr wird in einzelnen betreuten Fällen des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich eine mögliche Beeinflussung des Kindes, meist durch die Kindesmutter in gerichtlichen Entscheidungen hervorgehoben und somit die Glaubwürdigkeit des Erlebten in Frage gestellt. Es scheint so, dass die biologische Vaterschaft gewichtiger erscheint, als die Tatsache, dass das gewalttätige Verhalten negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben kann. Ein zentrales Thema ist in Fällen von häuslicher Gewalt, dass von Amtswegen Behörden aktiv das Kindeswohl rasch und effektiv zu prüfen und zu schützen haben. Hier braucht es eine individuelle Betrachtung und Verständnis der jeweiligen Lebenssituation.
Z.B. wurde in einer Entscheidung des Erstgerichtes zwar der Antrag auf erlassen einer Einstweiligen Verfügung der Erstantragstellerin (Kindesmutter) bestätigt, der Antrag des knapp 2jährigen Kindes als Zweitantragstellers wurde abgewiesen, obwohl das Kind bei Gewaltvorfällen gegenüber der Erstantragstellerin anwesend war. Im Antrag schilderte die Erstantragstellerin Gewaltvorfälle gegen ihre sexuelle Integrität, indem es zu nichtgewollten sexuellen Handlungen kam, obwohl das mj. Kind im selben Bett schlief. Bzw. gab es körperliche Gewaltübergriffe, obwohl das Kind am Arm der Mutter war. Das Kind zeigte beschriebene Verhaltensauffälligkeiten wie Schlafstörungen, Unruhe und Angespanntheit. Im Rekursverfahren (LG St. Pölten 23 R 172/19w) wurde die Entscheidung des Erstgerichtes aufgehoben.

„Nach ständiger Rechtsprechung ist Kindern, auch wenn sie selbst nicht Opfer von Tätlichkeiten geworden sind, diese aber mitansehen mussten, ebenfalls das Zusammentreffen mit diesen aggressiven Personen unzumutbar“ (hg 23 R 227/18g, EF 115.500, LGZ Wien 42 T 185/06a). Weiters merkte das Landesgericht zur Interessensabwägung an, dass das Recht auf persönlichen Verkehr mit einem leiblichen minderjährigen Kind bei Vorliegen der Voraussetzungen die Erlassung einer einstweiligen Verfügung grundsätzlich nicht hindert (EF 128.792 ua)9.

Auch wenn im gegenständlichen Beispiel das mj. Kind sich nicht verbal zu den miterlebten Gewaltvorfällen äußern konnte, sollten Kinder ein Mitspracherecht haben, das ihnen erlaubt, auch keinen Kontakt zum gewalttätigen Elternteil haben zu müssen. Es wäre wünschenswert, dass gemeinsam durch Justiz, sowohl Zivil- als auch Strafgerichte, Familiengerichtshilfe, Jugendwohlfahrt und Opfer- Kinderschutzeinrichtungen Qualitätsstandards zum Schutz des Kindeswohls erarbeitet werden. Mehrfachbefragungen von Kindern in Zivilverfahren sind bei häuslicher Gewalt zu vermeiden, da es durchaus zu Retraumatisierungen kommen kann. Ein wesentlicher Fokus zum Schutz des Kindeswohls  muss in der Prüfung und Feststellung einer verantwortungsvollen Vaterschaft, bzw. der elterlichen Verantwortung generell liegen. 

1 Siehe Statistik Gewaltschutzzentrum Niederösterreich, Tätigkeitsbericht 2019
2 Wehinger, Zwischen Selbst- und Fremdbestimmung, in Mayrhofer/Schwarz-Schlöglmann, Gewaltschutz (2017), 33 (48). 
3 Vertiefend Deixler-Hübner, in Deixler-Hübner/Fucik/Mayrhofer (Hrsg), Gewaltschutz und familiäre Krisen (2018), § 211
ABGB, Rz 1ff; Salicites, Kindeswohl in Zivil- und Verwaltungsverfahren, in Ferz/Salicites, Mediation Aktiv 2014 (2014) 75
(76). 

4 Hartwig 2006, Müller et al. 2004, https://www.gewaltinfo.at/themen/2012_11/kinder_als_mitbebetroffene_haeuslicher_gewalt.php, 21.08.2020
5 https://www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/frauen-und-gleichstellung/gewalt-gegen-frauen/istanbul-konvention-gewalt-gegen-frauen.html, 21.08.2020
6 Gewaltschutzgesetz, Praxiskommentar, Thomas Bauer, Rudolf Keplinger (Hrsg), 5. Auflage 01. Jänner 2020, 136
7 Mayrhofer, iFamZ 2019, 373. 
8 Umfassend Kühnberg/Salicites, in Deixler-Hübner/Fucik/Mayrhofer (Hrsg), Gewaltschutz und familiäre Krisen (2018), § 211
ABGB, Rz 7ff; Mayrhofer, iFamZ 2019, 373; Mayrhofer/Salicites, Worst Case Kindesabnahme, iFamZ 2015, 60 ff mwN.
Tätigkeitsbericht 2019 des Gewaltschutzzentrums Niederösterreich, Mag.a Hanna Salicites.
9 Siehe Tätigkeitsbericht Gewaltschutzzentrum 2019, Mag.a Susanne Schalko, Seite 40ff