Grundrechtsverletzungen an Kindern mit Variationen der Geschlechtsmerkmale (VdG) - bald Geschichte?

Jeder Mensch ist einzigartig, und auch unsere körperlichen Geschlechtsmerkmale sind individuell verschieden. Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale (VdG) bzw. intergeschlechtliche Menschen sind Teil unserer Gesellschaft (siehe Basis-Info unten), haben aber mit Tabuisierung, Pathologisierung, fehlender psychosozialer Unterstützung und normierenden Behandlungen zu kämpfen.

Problematik: nicht-konsensuelle, medizinisch nicht notwendige Behandlungen
Bereits im Jahr 2015 wurde von den KIJAs Österreich ein Positionspapier veröffentlicht, in dem die Forderung nach dem umfassenden Schutz der Grundrechte von intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen formuliert wurde.1 Konkret betrifft dies vor allem jene grundrechtlich höchst problematischen nicht-konsensuellen und medizinisch nicht notwendigen geschlechtsverändernden Behandlungen an intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen, welche in Österreich und weltweit leider immer noch durchgeführt werden. Es handelt sich dabei sowohl um hormonelle als auch um operative, genitalverändernde Eingriffe, die in aller Regel aus ästhetischen und sozialen Gründen durchgeführt werden und daher analog zu FGM (female genital mutilation) auch als IGM (intersex genital mutilation) bezeichnet werden.

Wenn eine Variation bereits beim Neugeborenen diagnostiziert wird, sind die Eltern oft sehr verunsichert – und auch Mediziner*innen und Hebammen sind häufig überfordert. Leider wird aus diesem Grund immer noch zu vermeintlich „einfachen, schnellen“ operativen Lösungen gegriffen, die aber schwerwiegende Konsequenzen für die Betroffenen haben. So wird in diesen Fällen anhand von Voraussagen über die zukünftige Geschlechtsidentität des Kindes entschieden, dessen körperlichen Geschlechtsmerkmale zu verändern, um den Normvorstellungen eines weiblichen oder männlichen Körpers zu entsprechen.

Problematisch an solch frühen, irreversiblen Entscheidungen ist dabei einerseits, dass es nie eine komplette Sicherheit geben kann, wie sich das Kind entwickeln wird und ob es mit den gewählten „Anpassungen“ dann auch zufrieden ist – selbst bei jenen Diagnosen, wo Studien eine gewisse Sicherheit vermittelt, kann niemals ausgeschlossen werden, dass Einzelne sich später eben nicht als weiblich bzw. männlich identifizieren. Und andererseits wird körperliche Vielfalt ganz klar als etwas Unerwünschtes bewertet, wenn davon ausgegangen wird, dass ästhetische Eingriffe im Sinne der Betroffenen sind. Darüber hinaus können solche Eingriffe erhebliche Komplikationen und lebenslange Folgen mit sich bringen, müssen also wohlüberlegt und vor allem selbstbestimmt sein – das ist in den ersten Lebensjahren aber grundsätzlich nicht möglich.2

Jüngste Entwicklungen in Österreich
Seit dem KIJA-Positionspapier 2015 wurden weiter diverse nationale und internationale Empfehlungen an österreichische Regierungen ausgesprochen, diese Praxis zu beenden – von Bioethikkommission und Volksanwaltschaft bis hin zu diversen UN-Ausschüssen (CAT, CEDAW, CRC) und EU- sowie Europarat-Institutionen.3 Zuletzt wurde Österreich im Februar 2020 im Rahmen der Universal Periodic Review von vier UN-Mitgliedsstaaten aufgefordert, derartige Eingriffe zu verbieten, solange die Betroffenen nicht vollumfassend augeklärt werden und informiert einwilligen können. Mit der Annahme dieser konkreten Empfehlungen hat sich die Republik daraufhin zum ersten Mal öffentlich bereit erklärt, dies auch tatsächlich umsetzen zu wollen, was einen großen Erfolg für die Inter* Bewegung darstellt.4 Allerdings muss die Umsetzung eines solchen Verbots sehr bedacht ausfallen, um keine zahnlose Regelung zu entwerfen, mit der die Eingriffe wie bisher fortgeführt werden können. An der Debatte in Deutschland um einen Gesetzentwurf zum Thema lässt sich sehen, wie hier mit unterschiedlichen Interessenlagen, Forderungen nach umfassendem Schutz und bestmöglicher Versorgung gerungen wird.5

Neben der aktuellen Zusage zur Umsetzung einer gesetzlichen Regelung gab es in Österreich in den letzten Jahren auch bereits eine umfassende Auseinandersetzung mit der Thematik durch das Gesundheitsministerium. In Zusammenarbeit mit Gesundheits- und Rechtsexpert*innen sowie Vertreter*innen von Selbsthilfe- bzw. Selbstvertretungsorganisationen wurden „Empfehlungen zu Varianten der Geschlechtsentwicklung“ erarbeitet. Im September 2019 veröffentlicht, sollten sie einen Meilenstein im Umgang mit VdG darstellen. Tatsächlich bleibt das Papier vor allem bei einer Abbildung der bisherigen Realität: Ein Schwanken zwischen der theoretischen Anerkennung von Grundrechten auch für intergeschlechtliche Menschen – und der trotzdessen weitergeführten Pathologisierung und Behandlung. Zu den positiven Neuerungen gehört die gestärkte Position von Selbsthilfe und Peerberatung sowie ein mehr oder weniger klarer Aufruf zur restriktiven Handhabung von invasiven Behandlungen. Eine definitive Absage an nicht-konsensuelle und medizinisch nicht notwendige Behandlungen fehlt allerdings.Aus der Peer-Beratung sowie aus dem Austausch mit Mediziner*innen ist leider bekannt, dass sich in der medizinischen Praxis daher wenig geändert hat.

Alternative Geschlechtseinträge, Geschlechtsidentität, körperliche Vielfalt
Das Thema Intergeschlechtlichkeit hat in den letzten Jahren in der medialen Öffentlichkeit immer mehr Aufmerksamkeit bekommen, zuletzt vor allem durch die 2018 vom Verfassungsgerichtshof ermöglichte Option, einen alternativen Geschlechtseintrag in persönlichen Dokumenten zu führen („inter“, „divers“, „offen“ oder ersatzlose Streichung).7 Obwohl dies ein großer Erfolg für die Inter*Bewegung war, hat die Einführung alternativer Geschlechtseinträge allerdings auch dazu geführt, dass die Ebene der Geschlechtsidentität sehr im Vordergrund steht.

Viele gehen nun davon aus, dass alle Menschen mit VdG sich auch als inter* bzw. nicht-binär identifizieren. Das ist so nicht der Fall: Die meisten Menschen mit einer Variation begreifen sich als Mädchen oder Buben, als Frauen oder Männer. Doch obwohl sich viele Menschen mit VdG geschlechtlich binär verorten, bedeutet dies eben nicht, dass es in Ordnung wäre, ungefragt die körperlichen Geschlechtsmerkmale an eine vermeintliche Norm anzupassen – es bedeutet vielmehr, dass unsere Gesellschaft ein an die tatsächliche Realität angepasstes Verständnis von geschlechtlicher Vielfalt entwickeln muss.

Basis-Info zu VdG/Intergeschlechtlichkeit:
Von Intergeschlechtlichkeit oder Variationen der Geschlechtsmerkmale (VdG) sprechen wir, wenn der Körper eines Menschen nicht klar den medizinisch-gesellschaftlichen Normvorstellungen eines weiblichen oder männlichen Körpers entspricht. Dabei können diese Variationen die Anatomie, die Hormone und/oder die Chromosomen betreffen – so haben etwa 1,7% der Bevölkerung eine ganz individuelle Kombination von sowohl weiblich als auch männlich konnotierten oder ambivalent erscheinenden Geschlechtsmerkmalen.8

In der Medizin werden heute die Begriffe „DSD“ (für Disorders bzw. Differences of Sex Development) oder „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ als Überbegriffe verwendet. Darüber hinaus gibt es unzählige Diagnosen zur Beschreibung der einzelnen Variationen, mit jeweils recht geringen Fallzahlen und als seltene Erkrankungen bezeichnet. Durch diese Vielfalt an Diagnosen ist leider auch Vereinzelung vorprogrammiert, obwohl die körperlichen, psychischen und sozialen Herausforderungen bei vielen sehr ähnlich sind und eine gegenseitige Unterstützung – besonders auch für Eltern intergeschlechtlicher Kinder – in Selbsthilfe oder Peer-Beratung als enorm hilfreich erlebt wird.

Links:
VARGES Beratungsstelle für Variationen der Geschlechtsmerkmale www.varges.at
VIMÖ Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich www.vimoe.at
Plattform Intersex Österreich www.plattform-intersex.at

Quellen:
Blackless, Melanie et al. (2000): How sexually dimorphic are we? Review and synthesis, in: American Journal of Human Biology 12
BMASGK (2019): Empfehlungen zu Varianten der Geschlechtsentwicklung. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Gesundheitssystem/Gesundheitssystem-und-Qualitaetssicherung/Planung-und-spezielle-Versorgungsbereiche/Empfehlungen-zu-Varianten-der-Geschlechtsentwicklung.html
KIJA Kinder- und Jugendanwaltschaften (2015): Positionspapier zu Intersexualität. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://www.kija.at/files/2015_09_01_Positionspapier_Intersex_neu.pdf
VIMÖ Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (2020): Oktober 2020: Erlass zum Geschlechtseintrag -Volltext. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://vimoe.at/2020/10/02/oktober-2020-erlass-zum-geschlechtseintrag-im-volltext/
VIMÖ Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (2020): Positionspapier VIMÖ-PIÖ. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://vimoe.at/wp-content/uploads/2020/05/2020_Positionspapier_VIMO%CC%88_PIO%CC%88.pdf
VIMÖ Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich (2021): Jänner 2021: UN-UPR. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://vimoe.at/2021/01/28/jaenner-2021-un-upr/
Wojtek, Michael (2020): Zum Schutz der Vielfalt des Lebens, in: Deutscher Bundestag (2020): Das Parlament Nr. 52-53. Online abgerufen am 15.02.2021 unter https://www.das-parlament.de/2020/52_53/innenpolitik/814474-814474

 

1 KIJA (2015)
2 BMASGK (2019), S.19ff
3 VIMÖ (2020)
4 VIMÖ (2021)
5 Wojtek (2020)
6 BMASGK (2019)
7 VIMÖ (2020)
8 Blackless et. al (2000)